Inhalte im Überblick:

  • Den Mensch als Nutzenden digitaler Systeme verstehen
  • Den Zusammenhang zu Usability und zum Design-for-All kennen
  • Nutzungsanforderungen von Menschen mit Behinderung kennen
  • Assistive Technologien und typische Barrieren kennen
  • Den Nutzen barrierefreier Software verstehen und kommunizieren können

Der Mensch als Nutzender digitaler Systeme und die Erweiterung des Benutzerkreises

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Software wird von Menschen genutzt. Sie verwenden Software, um bestimmte Tätigkeiten im privaten Umfeld oder im Rahmen ihrer Arbeitstätigkeit auszuführen. Sie haben ein Aufgabenziel, dass sie selbstständig und störungsfrei erreichen wollen. Eine Software richtet sich immer an eine konkrete Zielgruppe, z.B. Sachbearbeiter/-innen, die eine Akte pflegen, oder Personen, die ein Antragsformular ausfüllen. Bei der Initialisierung eines Software-Entwicklungsprojekts ist diese Zielgruppe in der Regel bereits grundlegend bekannt und wird im Rahmen der Analyse detaillierter beschrieben, um die funktionalen und nicht-funktionalen Anforderungen zu konkretisieren. Bei den Überlegungen zur Zielgruppe finden die sensorischen und motorischen Fähigkeiten der Benutzer/-innen jedoch bisher meist wenig Berücksichtigung. Diese sind jedoch die Grundlage für erforderliche Basismerkmale einer Software, die zwar nicht-funktional sind, aber die Herstellung der Gebrauchstauglichkeit für alle Nutzenden erst ermöglichen. Beispielsweise ist es sehr wahrscheinlich, dass eine Software von Menschen mit Sehbeeinträchtigungen verwendet wird. Dazu gehören Brillenträger/-innen, ältere Menschen, die krankheits- oder altersbedingt an Sehstärke verlieren oder Menschen mit einer Farbfehlsichtigkeit. Aus diesen Beeinträchtigungen ergeben sich beispielsweise Nutzungsanforderungen an die Schriftgröße und den Einsatz von Farbe.

Menschen mit Behinderung und deren Nutzungsanforderungen

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Etwa jeder Zehnte in Deutschland lebt mit einer Behinderung. Aus unterschiedlichen körperlichen, seelischen, geistigen oder Sinnesbeeinträchtigungen entstehen verschiedene Anforderungen an eine Software. Dazu gehören sowohl technische Anforderungen, die sich auf die Umsetzung im Quellcode beziehen, als auch Anforderungen an die Nutzerinteraktion und das visuelle Design. Als barrierefrei gelten Systeme der Informationstechnik, “wenn sie für Menschen mit Behinderungen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und nutzbar sind. Hierbei ist die Nutzung behinderungsbedingt notwendiger Hilfsmittel zulässig” (§4 BGG).

Die DIN EN ISO 9241-171 (Leitlinien für die Zugänglichkeit von Software) fasst die Barrierefreiheit weiter und definiert eine Software als zugänglich, wenn sie für eine in Bezug auf ihre Fähigkeiten möglichst weit gefasste Gruppe von Menschen gebrauchstauglich ist. Sie bezieht also im Sinne des Design-for-All alle möglichen Nutzenden ein unabhängig von einer bescheinigten Behinderung.

Einige Beispiele sollen Beeinträchtigungen und daraus resultierende Nutzungsanforderungen verdeutlichen:

  • Nutzung ohne Sehvermögen: Sabine ist Sachbearbeiterin und prüft Anträge auf ihre Vollständigkeit und Korrektheit, bevor sie sie zur Genehmigung vorlegt. Da sie blind ist, nutzt sie am Arbeitsplatz die Bildschirmlese-Software (Screenreader) JAWS. Ihre Arbeit kann sie derzeit nicht vollständig selbst erledigen, da es einige Dialogmasken gibt, die in der eingesetzten Software gar nicht durch den Screenreader ausgegeben werden, und die auch nicht mit der Tastatur bedient werden können. Für Sabine ist es wichtig, dass bei der Programmierung alles tastaturbedienbar umgesetzt wird und die Schnittstellen angesprochen werden, auf die der Screenreader zugreift, um für sie eine verständliche Ausgabe zu erzeugen.
  • Nutzung mit eingeschränktem Sehvermögen: Stefan ist Projektmanager. Seine Sehkraft hat sich in letzter Zeit stark verschlechtert. Bei ihm hat sich ein grauer Star (Katarakt) entwickelt. Bei seiner Arbeit am Monitor blenden ihn die großen weißen Flächen und er kann Texte mit geringen Kontrasten schlecht lesen. Bis zu seiner Operation, die die Linsentrübung behandeln soll, nutzt er an seinem Laptop deshalb einen hohen Kontrastmodus, der alle Farben im Betriebssystem anpasst (Hintergründe sind Schwarz und Schriften hell). Außerdem hat er sich die Schriftgröße im Betriebssystem größer eingestellt. Leider kann er nun einige Funktionen in der Projektplanungssoftware nicht mehr sehen, da sie im Kontrastmodus verschwinden oder auf Grund der Größe aus dem Fenster „hinauslaufen“. Stefan ist im Moment darauf angewiesen, dass Software seine individuellen Einstellungen im Betriebssystem übernimmt.
  • Nutzung ohne oder mit eingeschränkter Farbwahrnehmung: Fabian ist IT-Administrator mit einer Rot-Grün-Farbefehlsichtigkeit. Er verwaltet die Netzwerke und virtuellen Laufwerke einer öffentlichen Stelle. Beides kann er in Listen im Überblick sehen und überwachen. Gibt es Ausfälle oder Probleme, kann er das derzeit nicht eindeutig in der Übersichtsansicht erkennen, da der Netzwerkstatus mit roten, gelben und grünen Kreisen unterschieden wird. Erst in einer Detailansicht kann er prüfen, ob das entsprechende Netzwerk korrekt funktioniert. Fabian ist darauf angewiesen, dass Informationen nicht ausschließlich über Farbe dargestellt werden, sondern mittels Beschreibungen oder unterschiedliche Formen dargestellt werden.
  • Nutzung ohne Hörvermögen: Hannah ist gehörlos. An ihrem Arbeitsplatz kann sie die Web Based Trainings derzeit nur eingeschränkt nutzen, da die Videosequenzen keine Untertitel enthalten. Hannah ist bei akustischen Informationen auf zusätzliche textuelle Informationen angewiesen. Auch ihre Kollegen haben schon berichtet, dass sie sich Untertitel wünschen, weil im Büro oder unterwegs nicht immer auch eine Tonausgabe genutzt werden kann.
  • Nutzung mit eingeschränktem Hörvermögen: Ben ist IT-Berater. Er ist schwerhörig und kann Gesprochenes vor allem bei Hintergrundgeräuschen nicht gut verstehen. Da seine öffentliche Stelle mehrere Standorte in verschiedenen Bundesländern hat, muss er oft an Online-Konferenzen teilnehmen. Aus Gründen des Datenschutzes wird bei seiner Arbeit ein eigenentwickeltes Online-Konferenz-System. Da die Audioqualität dieses Tools zu wenig Audiobandbreite bietet, leidet die Sprachqualität darunter. Seine Kollegen sind trotzdem in der Lage miteinander zu kommunizieren, aber er selbst hat Schwierigkeiten damit. Auch eine automatische Live-Untertitelung, die ihm beim Verstehen des Gesprochenen unterstützen könnte, ist nicht möglich. Für Ben sind eine gute Audioqualität sowie Untertitel wichtig, die ihm dabei helfen Gesprochenes besser zu verstehen.
  • Nutzung ohne Sprachvermögen: Johanna ist seit einem Unfall in ihrer Kindheit stumm. Sie ist eine akademische Mitarbeiterin an einer Hochschule. Für eine Studie soll sie einen neuen Eyetracker testen, doch leider scheint das Gerät nicht zu funktionieren. Sie beschließt den technischen Support zu kontaktieren, aber sie stellt fest, dass von diesem nur eine Telefonnummer zu finden ist. Jetzt muss sie entweder versuchen selbst die Lösung zu finden oder einen Kollegen darum bitten, für sie anzurufen. Johanna ist darauf angewiesen, dass alternative Kommunikationskanäle zur Verfügung stehen.
  • Nutzung mit eingeschränkter Handhabung oder Kraft: Michael ist Informatik-Lehrer an einem Gymnasium. Er hat einen Intensionstremor (Zittern bei zielgerichteten Bewegungen), weshalb es ihm schwerfällt, eine Maus zu benutzen. Mit der Tastatur kann er besser arbeiten. In der nächsten Unterrichtseinheit möchte er seinen Schülern zeigen, wie man einen Roboter mithilfe einer Software programmiert. Bei der Vorbereitung stellt er fest, dass der Tastaturfokus in der Entwicklungssoftware manchmal nur schwach und manchmal gar nicht zu sehen ist. Einige Benutzungsoberflächenelemente erhalten offenbar gar keinen Tastaturfokus. Da diese Entwicklungssoftware für ihn nicht nutzbar ist, muss er versuchen eine andere Software zu finden, die er im Unterricht einsetzen kann. Michael ist darauf angewiesen, dass alle Bedienelemente mit der Tastatur erreichbar und bedienbar sind und dass es der Tastaturfokus deutlich sichtbar ist.
  • Nutzung mit eingeschränkter Reichweite: Julia sitzt auf Grund einer Erkrankung im Rollstuhl. Sie ist Professorin im Bereich Biologie. und ist aktuell im Ausland auf Reisen, weil sie ein neues Paper veröffentlicht hat. Sie möchte zum Konferenzort mit der Bahn fahren und versucht sich deshalb an einem Selbstbedienungsterminal ein Bahnticket zu kaufen. Da das Terminal zu weit oben angebracht ist, kann sie es nicht erreichen und muss jemandem auf dem Bahnsteig um Hilfe bitten. Julia ist darauf angewiesen, dass Informations- und Kommunikationstechnologien für jeden physikalisch erreichbar sind.
  • Verringerung von Anfallsauslösern bei Photosensibilität: Martina hat Epilepsie. Sie arbeitet in der Personalabteilung und ist unter anderem für den Einkauf von Weiterbildungsseminaren zuständig. Als sie ein Lehrvideo zum Thema Brandschutz prüft, löst es einen epileptischen Anfall bei ihr aus, weil in dem Video ein schneller Farbwechsel sattfindet, der zu einem schnellen Flackern führt. Für Martina ist es sehr wichtig, dass darauf geachtet wird, dass Videos und andere Medien nicht wiederholt in einer hohen Frequenz blitzen.
  • Nutzung mit kognitiven Einschränkungen: Dirk hat ADS. Er arbeitet im Kundenmanagement, wo er häufig Kundendaten im System neueintragen oder aktualisieren muss. Dirk vertippt sich oft beim Ausfüllen der Formularfelder. Dann gibt die Software zwar die Meldung aus, dass „ein Fehler aufgetreten“ ist, es gibt aber keine Hinweise zur Ursache oder Lösung des Problems. Dirk muss sich dann alle Daten ganz genau ansehen und versuchen den Fehler zu finden. Das fällt ihm sehr schwer, da er sich nicht so gut über längere Zeit konzentrieren und er auch schnell frustriert sein kann. Dirk ist auf klare und eindeutige Fehlermeldung am fehlerhaften Feld angewiesen. Außerdem hilft es ihm sehr, wenn direkt ersichtlich ist, in welchem Format Eingaben erwartet werden.

Nutzen barrierefreier Software

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Die Umsetzung der Barrierefreiheit birgt nicht nur Vorteile für Menschen mit Behinderung, sondern wirkt sich auch auf die Gebrauchstauglichkeit aus und kann dadurch vielfältigen Nutzen erzeugen.

So wirkt sie sich direkt auf die Verbesserung der Usability (auch Gebrauchstauglichkeit oder Software-Ergonomie) für alle Nutzenden aus:

  • Gut beschriebene Fehlermeldungen erleichtern die Fehlerbehebung.
  • Eingabehinweise in Eingabefeldern verbessern die Selbstbeschreibungsfähigkeit und Lernförderlichkeit.
  • Konsistente Navigation und Elementbezeichnungen verbessern die Erwartungskonformität.
  • Eine durchgängige Tastatursteuerung unterstützt Power-User in ihrer Arbeitseffizienz.
  • Alternative Ausgabeformen erlauben die Arbeit im Büro auch ohne akustische Ausgabe.
  • Individualisierungsmöglichkeiten und Kontraste für Schrift und UI-Elemente verbessern die Wahrnehmbarkeit der Inhalte für alle Nutzenden.
  • Der Verzicht auf Zeitbegrenzungen und die Möglichkeit automatisch ablaufende Inhalte zu steuern, reduzieren Stress und kognitive Belastung.
  • Eine gute, zugängliche Nutzungsdokumentation trägt zur Lernförderlichkeit bei.

Steigerung der Motivation und Produktivität: Eine direkte Auswirkung der Verbesserung der Usability liegt in der Steigerung der Nutzungseffizienz und Zufriedenheit der Nutzenden.

  • Eine erleichterte Einarbeitung ermöglicht es, dass Nutzende schneller produktiv arbeiten.
  • Eine hohe Fehlertoleranz vermeidet Nutzungsfehler und erhöht die Qualität und Effizienz der Arbeitsergebnisse.
  • Die freie Wahl des Eingabegeräts (bspw. Maus oder Tastatur) bringt für Power-User Effizienzvorteile, da Eingabemasken ohne Wechsel zwischen Maus und Tastatur ausgefüllt werden können.
  • Möglichkeiten der Vergrößerung und Kontrastanpassung unterstützen die Darstellung auf verschiedenen Displays und in verschiedenen Situationen, in denen eine individuelle Darstellungsanpassung erforderlich ist.

Chancen der Digitalisierung nutzen: Durch die Digitalisierung können viele Menschen selbstständigen Zugriff auf Daten erhalten, die zuvor nur in Papierform vorlagen und deshalb nicht zugänglich waren. Dies verbessert die Teilhabe am öffentlichen Leben und Arbeitsleben. Wichtig ist, dass die Digitalisierung barrierefrei und ergonomisch erfolgt, um nicht wieder neue Benutzergruppen auszuschließen. So können auch neue Tätigkeitsgebiete für Menschen mit Behinderung ermöglicht werden.

Reduzierung von Folgekosten: Obwohl die initialen Entwicklungskosten unter Berücksichtigung der Barrierefreiheit und Gebrauchstauglichkeit etwas höher sind (vor allem dann, wenn Mitarbeitende noch nicht sensibilisiert und geschult sind), können die Folgekosten des Software-Einsatzes reduziert werden. So tragen erwartungskonforme und selbstbeschreibende Dialoge mit hoher Fehlertoleranz dazu bei, dass Einarbeitungszeiten und Bearbeitungszeiten verkürzt werden. Die Barrierefreiheit unterstützt dies durch Anforderungen an konsistente Dialoge, beschreibende Labels und verständliche Fehlermeldungen. Dadurch können sich auch die Kosten für den Anwendungssupport reduzieren. Darüber hinaus sind bei barrierefreier Software wesentlich weniger bis keine individuellen und kostenaufwendigen Arbeitsplatzanpassungen für Screenreader erforderlich.

Erhaltung von Arbeitsplätzen: Da viele Beeinträchtigungen im Laufe des Lebens erworben werden, können Arbeitsplätze auch für älter werdende Beschäftigte erhalten werden. Verschlechtert sich bspw. die Sehstärke, kann leicht auf Vergrößerungs- oder Kontrastfunktionen zugegriffen werden. Treten manuelle Beeinträchtigungen auf, die das Nutzen der Maus einschränken, kann auf die Tastaturnutzung zurückgegriffen werden. Dadurch kann die Arbeitseffizienz für Menschen mit Beeinträchtigungen verbessert werden, da weniger Zeit in die Herstellung der Zugänglichkeit oder in die Umgehung von Zugänglichkeitsproblemen investiert werden muss.

Erfüllung gesetzlicher Vorgaben: Nutzende, die sich in Ihren Rechten beeinträchtigt fühlen, haben die Möglichkeit über Personalräte und Schlichtungsstellen Anpassungen in der Software zu erwirken. Indem bereits barrierefrei und ergonomisch entwickelt wird, wird der Pflicht zur Umsetzung gesetzlicher Vorgaben aus dem Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) und der BITV 2.0 nachgekommen. Dadurch lassen sich die Risiken in Bezug auf rechtliche und wirtschaftliche Folgen reduzieren. Weiterhin werden Anforderungen an die Benutzerfreundlichkeit von Bildschirmarbeitsplätzen gemäß Arbeitsstättenverordnung (ArbStättV Anhang 6.5) umgesetzt.

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