In den Ausschreibungs- und Vergabeunterlagen ist auch festzulegen, wie und durch wen der Nachweis der Barrierefreiheit zu erbringen ist: durch den Auftragnehmer, durch den Auftraggeber oder durch eine unabhängige Prüfstelle. In jedem Fall ist sicherzustellen, dass die zur Begutachtung und Prüfung von IT-Lösungen (Desktop- und Web-Anwendungen) auf Barrierefreiheit erforderlichen Kenntnisse und Erfahrungen vorhanden sind . Erfahrungen lediglich bei der Prüfung von Auftritten und Angeboten im Internet (Webinhalte) reichen hierfür nicht aus.

Die Barrierefreiheit von IT-Lösungen setzt weit mehr voraus als nur die Konformität mit den in der Leistungsbeschreibung zu benennenden Standards und Regelwerken. In den Blick zu nehmen sind auch Gebrauchstauglichkeit und Nutzerfreundlichkeit (Usability). Die Begutachtung einer IT-Lösung auf Barrierefreiheit muss deshalb auch konkrete Nutzungsszenarien (Workflows) einbeziehen.

4.1 Nachweis der Konformität mit den Anforderungen zur Barrierefreiheit

Permalink "4.1 Nachweis der Konformität mit den Anforderungen zur Barrierefreiheit"

In dem Gutachten zur Barrierefreiheit ist zum einen der Nachweis zu erbringen, dass die in der Leistungsbeschreibung als A-Kriterien benannten Anforderungen zur Barrierefreiheit in der ausgeschriebenen IT-Lösung konsequent umgesetzt wurden und ausnahmslos eingehalten werden. Festzustellen ist für jede einzelne Anforderung, ob sie erfüllt, nicht erfüllt oder nur teilweise erfüllt wird. Die Gründe hierfür sind zu dokumentieren. Gleichzeitig ist in den Ausschreibungs- und Vergabeunterlagen festzulegen, dass bei der Begutachtung festgestellte Fehler und Barrieren vor der Abnahme beseitigt werden.

Formulierungsvorschlag (A-Kriterium)

Permalink "Formulierungsvorschlag (A-Kriterium)"

Der Auftragnehmer ist verpflichtet, zum Nachweis der Barrierefreiheit der von ihm entwickelten IT-Lösung einen ausführlichen Prüfbericht zur Konformität der IT-Lösung mit den in der Leistungsbeschreibung festgelegten Anforderungen zur Barrierefreiheit vorzulegen. Für jede einzelne Anforderung zur Barrierefreiheit ist darzulegen, ob sie „erfüllt“, „teilweise erfüllt“ oder „nicht erfüllt“ ist. Soweit eine Anforderung „nicht erfüllt“ oder nur „teilweise erfüllt“ ist, sind die festgestellten Fehler und Barrieren zu dokumentieren. Anforderungen zur Barrierefreiheit, für die es keinen Anwendungsbereich in der IT-Lösung gibt, sind als „nicht anwendbar“ zu kennzeichnen. Die Einstufung als „nicht anwendbar“ ist zu begründen.

Die Prüfung der Konformität der IT-Lösung mit den in der Leistungsbeschreibung festgelegten Anforderungen zur Barrierefreiheit muss sich auf die gesamte IT-Lösung beziehen. Soweit Dienste oder Komponenten Dritter (z. B. Anbringen einer qualifizierten elektronischen Signatur, elektronische Bezahlverfahren) vom Auftragnehmer in die IT-Lösung eingebunden wurden, sind diese Teile in die Prüfung der Konformität einzubeziehen. Gegenstand der Prüfung sind auch die Hilfe-Funktion und die Benutzerhandbücher.

Fehler und Barrieren, die im Rahmen der Prüfung festgestellt werden, sind vor der Abnahme zu beseitigen.

Soweit die IT-Lösung Funktionen bereitstellt, die die Erstellung von Dokumenten oder eine Formatwandlung (z. B. von einem Quell-Dokument in das Format PDF) ermöglichen, ist auch zu prüfen, ob die erstellten Dokumente den in der Leistungsbeschreibung festgelegten Anforderungen an barrierefreie Dokumente entsprechen.

4.2 Nachweis der Barrierefreiheit anhand von Use Cases

Permalink "4.2 Nachweis der Barrierefreiheit anhand von Use Cases"

Für vom Auftraggeber vorab definierte Use Cases und User Stories, die die mit der IT-Lösung zu erbringenden Aufgaben exemplarisch abbilden, ist die Funktionalität unter Verwendung von assistiven Technologien zu prüfen. Festgestellte Fehler und Barrieren sind zu dokumentieren.

Hierzu ist in den Ausschreibungs- und Vergabeunterlagen festzulegen, dass die Prüfung mit mindestens einem Screenreader, einem Vergrößerungsprogramm mit ergänzender Sprachausgabe und einer Software für die Steuerung durch Spracheingabe durchzuführen ist.

Formulierungsvorschlag (A-Kriterium)

Permalink "Formulierungsvorschlag (A-Kriterium)"

Der Auftragnehmer ist verpflichtet, neben dem Prüfbericht zur Konformität mit den in der Leistungsbeschreibung festgelegten Anforderungen zur Barrierefreiheit einen Prüfbericht zur Nutzung der IT-Lösung mit assistiven Technologien vorzulegen. Die Prüfung ist mit mindestens einem Screenreader, mindestens einem Screenmagnifier (Bildschirmlupe mit ergänzender Sprachausgabe) und mindestens einem Programm zur Steuerung über Sprachbefehle durchzuführen.

Für vom Auftraggeber vorab definierte Use Cases und User Stories, die die mit der IT-Lösung zu erbringenden Aufgaben exemplarisch abbilden, ist die Funktionalität unter Verwendung assistiver Technologien zu prüfen. Festgestellte Fehler und Barrieren sind zu dokumentieren.

Der Auftraggeber stellt dem Auftragnehmer die für die Prüfung zu verwendenden Testfälle für die zu erledigenden Aufgaben vor der Prüfung zur Verfügung.

Fehler und Barrieren, die im Rahmen der Prüfung festgestellt werden, sind vor der Abnahme zu beseitigen.

Der Formulierungsvorschlag kann präzisiert werden, indem die an den Arbeitsplätzen der Beschäftigten eingesetzten assistiven Technologien unter Angabe der jeweiligen Produktbezeichnung genannt werden.

  • Für das Betriebssystem Windows gängige Screenreader sind bspw. JAWS und NVDA, gängige Vergrößerungsprogramme mit ergänzender Sprachausgabe bspw. ZoomText und SuperNova.
  • Für das Betriebssystem macOS und iOS sind gängige Screenreader und -maginifier VoiceOver und Zoom
  • Für das Betriebssystem Android ist der gängige Screenreader TalkBack
  • Als Programm zur Sprachsteuerung werden bspw. Dragon Naturally Speaking oder Betriebssystem-eigene Funktionen eingesetzt.
  • für das Betriebssystem Linux gängige Screenreader bspw. Orca (Open Source) und SpeakUp (Open Source)

Use Cases und User Stories sind anhand des Auftragsgegenstandes vom Auftraggeber zu definieren. Die Anzahl der Use Cases und User Stories ist in der Ausschreibungsunterlage festzulegen. Falls der Auftraggeber eigene Testpersonen für die definierten Use Cases und User Stories bereitstellt, sollte festgelegt werden, dass auch in diesem Szenario festgestellte Fehler und Barrieren vor der Abnahme behoben werden.

4.3 Dokumentation der Prüfergebnisse

Permalink "4.3 Dokumentation der Prüfergebnisse"

Zusätzlich zu den Prüfergebnissen zur Konformität mit den Anforderungen aus der Leistungsbeschreibung sowie der Use Cases sind Inhalt und Umfang der Dokumentation der Prüfergebnisse festzulegen.

Formulierungsvorschlag (A-Kriterium)

Permalink "Formulierungsvorschlag (A-Kriterium)"

Die Prüfungen zur Barrierefreiheit sind jeweils in einem Prüfbericht schriftlich zu dokumentieren. Diese enthalten insbesondere folgende Angaben:

  • Nennung des Prüfgegenstandes inklusive Versionsnummer
  • Nennung und Verweis auf das verwendete Prüfverfahren
  • Bezeichnung der geprüften Komponenten und Bestandteile der IT-Lösung (einschließlich Version und Datum der geprüften Entwicklungsstände)
  • Gegenstand und Umfang der Prüfung, Beschreibung der Testfälle und der Prüf-Szenarien
  • Testumgebung und Testbedingungen
  • Verwendete Prüfwerkzeuge und Prüftools
  • Verwendete assistive Technologien (Name und Version)
  • Zeitraum und Ort der Prüfung
  • Name der beteiligten Testenden
  • Detaillierte Wiedergabe des Prüfergebnisses
  • Bei festgestellten Fehlern und Barrieren werden in dem Bericht soweit möglich Vorschläge formuliert, wie sich die Anforderungen zur Barrierefreiheit umsetzen lassen.
  • Die Prüfberichte werden ihrerseits in einem barrierefreien Format (Einhaltung der Anforderungen der EN 301 549, Abschnitt 10, und der DIN ISO 14289-1) vorgelegt.

Falls eigene Vorlagen für die Dokumentation von Ergebnissen oder ein Ticket-System verfügbar sind, kann der Auftragnehmer verpflichtet werden, diese zu verwenden.

Die Leistungsbeschreibung gehört zum Kernbereich der Ausschreibungs- und Vergabeunterlagen, da hier die Anforderungen an den Leistungsgegenstand festgelegt werden. Anforderungen an die Barrierefreiheit, die eine IT-Lösung aufgrund der gesetzlichen Vorgaben oder aufgrund von zusätzlichen Vorgaben des Auftraggebers in jedem Fall erfüllen muss, müssen in der Leistungsbeschreibung klar und eindeutig benannt werden. Sie sind als Ausschlusskriterien (A-Kriterien) zu formulieren, da nur so ihre Einhaltung rechtlich verbindlich festgelegt wird. Um die Verwirklichung von Barrierefreiheit sicherzustellen, sollte die Leistungsbeschreibung hierzu nicht nur Anforderungen an den Leistungsgegenstand (die ausgeschriebene IT-Lösung) enthalten. Zu formulieren sind auch Anforderungen an den Entwicklungsprozess und die Dokumentation.

Zusätzlich zu A-Kriterien können weitere Gesichtspunkte zur Barrierefreiheit, die darüber hinausgehen, in der Leistungsbeschreibung im Rahmen von Bewertungskriterien (B-Kriterien) berücksichtigt werden (§ 127 Abs. 1 Satz 4 GWB, § 58 Abs. 2 Nr. 1 VgV). Ein Bieter, der bei den Bewertungskriterien gut abschneidet, kann hierdurch seine Chancen auf den Zuschlag erhöhen. Die zusätzliche Berücksichtigung der Barrierefreiheit in der Leistungsbeschreibung im Rahmen von B-Kriterien ist daher ein wichtiges Instrument, um auch hinsichtlich der Barrierefreiheit einen Wettbewerb um die beste Lösung zu erreichen. Bewertungskriterien zur Barrierefreiheit können sich sowohl auf zusätzliche Anforderungen an den Ausschreibungsgegenstand als auch auf den Entwicklungsprozess beziehen.

Informationen zu diesem Artikel

Gerne können Sie uns Feedback per E-Mail zu unserer Handreichung senden!